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Europäischer Gerichtshof: Deutsche Regelungen zur Verjährung des Urlaubs widersprechen Europarecht

Interview mit unserem Dozenten und Senatsvorsitzenden am Bundesarbeitsgericht (BAG) a. D. Prof. Franz Josef Düwell zu den Folgen für die betriebliche Praxis

 

In vielen Betrieben ist es in diesen Tagen wieder soweit: Die Urlaubsplanung für das kommende Jahr steht an oder ist bereits im vollen Gange. Dabei hat so manche* r Beschäftigte noch gar nicht alle Urlaubstage aus diesem Jahr nehmen können, sei es aus dringenden persönlichen Verhinderungsgründen, z. B. Krankheit oder dringenden betrieblichen Gründen, z. B. termingebundene Aufträge und/oder zu dünne Personaldecken.

Doch was passiert eigentlich mit diesem Resturlaub? Kann er verfallen und wenn ja: Wann?

Bereits 2011 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) und ein Jahr später auch das Bundesarbeitsgericht in Erfurt (Urteil vom 07.08.2012, 9 AZR 353/10), dass Urlaub, der wegen einer Langzeiterkrankung und andauernder Arbeitsunfähigkeit (AU) nicht genommen werden kann, erst 15 Monate nach dem Urlaubsjahr (= Kalenderjahr) verfällt. Das heißt Urlaub aus dem Jahr 2022 verfällt danach erst am 31.03.2024.

In einer weiteren Entscheidung, die viele Unternehmen in helle Aufregung und hektische Betriebsamkeit versetzte, bestimmte der EuGH 2018 (bestätigt durch das Bundesarbeitsgericht im Jahr 2019, Urteil vom 19.02.2019, 9 AZR 423/16), dass Arbeitgeber ihre Beschäftigten darauf hinweisen müssen, dass sie ihren Urlaub noch nehmen müssen, damit dieser nicht am Jahresende verfällt. Oder anders ausgedrückt: Wenn der/die Arbeitnehmer*in nicht von der Verjährungsfrist weiß, können Urlaubsansprüche nicht verfallen.

Die Erfurter Arbeitsrichter wollten nun vom EuGH geklärt wissen, ob die 15-Monatsfrist bei Langzeiterkrankungen auch dann gilt, wenn der Arbeitgeber den/die Arbeitnehmer*in nicht auf den möglichen Verfall von Urlaub hingewiesen hat.

Mit seiner aktuellen Entscheidung (C-619/16 und C-684/16)zu dieser Frage hat der EuGH für einen weiteren Paukenschlag gesorgt. Danach widersprechen die deutschen Regelungen zur allgemeinen Verjährung Europarecht (nach §§ 194, 195 BGB verjähren Ansprüche nach 3 Jahren, beginnend nach dem Schluss des Jahres, in dem sie entstanden sind). Ein Arbeitgeber, der seine Informations- und Hinweispflicht verletzt, dürfe nicht noch mit der Verjährung „belohnt“ werden, zumal der/die Arbeitnehmer*in die schwächere Partei im Arbeitsverhältnis sei. Gestern hat sich das BAG dieser Linie angeschlossen.

Doch was genau bedeutet diese Entscheidung? Welche Auswirkungen hat sie für die Beschäftigten und ihre Urlaubsansprüche?

Grund genug für uns bei unserem langjährigen Dozenten im Seminar „Aktuelles aus dem Arbeitsrecht“, Prof. Franz Josef Düwell, nachzufragen. Franz Josef war Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht im 9. Senat, dem u. a. das Rechtsgebiet Urlaub zugeordnet ist.

 

Profis:

Lieber Franz Josef, der EuGH hat mit seiner Entscheidung klargestellt, dass es in der Verantwortung des Arbeitgebers liegt, den Urlaub zu gewähren und verpflichtet ihn zum Nachweis. Danach muss der Arbeitgeber die/den Beschäftigte*n angemessen über den möglichen Verfall informieren und ihm die Möglichkeit geben, den Urlaub auch zu nehmen.

Wie darf man sich das ganz praktisch vorstellen: Was gehört in dieses Informationsschreiben? Reicht eine Rundmail?

Prof. Franz Josef Düwell:

Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub („…jährlich mindestens 24 Werktage.“) erlischt in richtlinienkonformer Auslegung des Bundesurlaubsgesetzes (BUrlG) nur dann am Ende des Kalenderjahres

(§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BurlG, bis zum 31. März des Folgejahres, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen), wenn der Arbeitgeber den/die Arbeitnehmer*in zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der/die Arbeitnehmer*in den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.

Da dem Arbeitgeber die Initiativlast zufällt, muss er gegebenenfalls jede betroffene Person verständlich und erforderlichenfalls auch förmlich auffordern, den noch nicht genommenen Urlaub vor Ablauf der Verfall- oder Verjährungsfrist zu nehmen.

Ob das mit einer Rundmail einige Wochen vor Jahresende geschehen kann, ist mehr als fraglich. Nach meiner Ansicht genügt dem vom EuGH aufgestellten Transparenzgebot nur eine gezielte Einzelansprache. Hat der Arbeitgeber nicht ordnungsgemäß belehrt, greifen weder Verfall- noch Verjährungsfristen.

 

Profis:

Wie weit rückwirkend kann Urlaub denn nun geltend gemacht werden?

Prof. Franz Josef Düwell:

Ein nicht erfüllter Urlaubsanspruch kann für alle zurückliegenden Kalenderjahre genommen werden, soweit der Anspruch aus diesen Jahren nicht aufgrund des oben beschriebenen Fristenregimes verfallen ist.

Wenn der Urlaubsanspruch verjährt ist, kann der Anspruch dennoch geltend gemacht werden.

Der Arbeitgeber ist allerdings berechtigt, die Einrede der Verjährung zu erheben. Tut er dies, ist der Anspruch gerichtlich nicht mehr durchsetzbar.

 

Profis:

Warum sollte man dann den Anspruch denn überhaupt geltend machen, wenn der Arbeitgeber sich dem mit einer Einrede so einfach entziehen kann?

Prof. Franz Josef Düwell:

Nicht jeder Arbeitgeber beruft sich auf Verjährung; denn das ist eine Frage der moralischen Haltung.

Der Schuldner (= Arbeitgeber) weiß ja, dass er schuldet. Dennoch erklärt er „Die Forderung ist zu alt, ich will deshalb nicht erfüllen.“

Kommt es zum Gerichtsverfahren verurteilt der Richter zur Zahlung, es sei denn der Schuldner erhebt ausdrücklich die Einrede der Verjährung. Ohne Einrede erfolgt Verurteilung. Der Richter darf auch nicht auf die Möglichkeit der Einrede-Erhebung hinweisen, denn das wäre parteiisch.

Dagegen bedarf es bei einem Verfall keiner Einrede. Vielmehr muss der Richter auch ohne Einwendung des Arbeitgebers prüfen, ob der Anspruch nicht verfallen ist.

 

Profis:

Und was gilt, wenn der Urlaub z. B. aufgrund eines zu hohen Arbeitsanfalls nicht gekommen werden konnte?

Prof. Franz Josef Düwell:

Konnte vor Jahresende der Urlaub aufgrund eines zu hohen Arbeitsanfalls nicht genommen werden, wird der Anspruch nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG auf das Folgejahr übertragen. Der übertragene Anspruch muss jedoch nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG in den ersten drei Monaten des Folgejahres von den Beschäftigten genommen und vom Arbeitgeber gewährt werden.

 

Profis:

Was bedeutet diese Entscheidung für die Arbeit der Betriebsräte? Worauf sollten sie nun achten, was sollten sie tun?

Prof. Franz Josef Düwell:

Die Betriebsräte haben nach § 80 Abs. 1 Nr.1 BetrVG die wichtige Aufgabe, über die Einhaltung der zugunsten der Beschäftigten bestehenden Bestimmungen zu wachen. Zu den zu überwachenden Vorschriften gehört insbesondere das Recht aus dem BUrlG, den Erholungsurlaub in Anspruch zu nehmen. Daher hat der Betriebsrat darauf zu achten, dass der Arbeitgeber seine vom EuGH festgelegten Hinweispflichten auch tatsächlich erfüllt. Tut er das nicht, darf und soll der Betriebsrat das Verhalten des Arbeitgebers beanstanden und die Beschäftigten darüber aufklären, dass ihr Anspruch weder verfallen noch verjährt ist.

Um die Überwachung zu ermöglichen, hat der Arbeitgeber den Betriebsrat nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG darüber zu unterrichten, auf welche Art und Weise er die Beschäftigten, die noch Resturlaubsansprüche haben, auf das Erfordernis der Urlaubsnahme vor Ablauf der Verfall- und Verjährungsfristen hinweist.

 

Profis:

Kann der Betriebsrat denn eigentlich auch sein Mitbestimmungsrecht beim Urlaub gemäß nach § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG hierfür nutzen, um dieses Thema z. B. in einer Betriebsvereinbarung zu regeln oder spielt der § 87 in diesem Fall keine Rolle?

Prof. Franz Josef Düwell:

Ob ein über die Einigungsstelle erzwingbares Mittbestimmungsrecht besteht, ergibt sich aus der Auslegung von § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG „Aufstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze und des Urlaubsplans sowie die Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs für einzelne Arbeitnehmer, wenn zwischen dem Arbeitgeber und den beteiligten Arbeitnehmern kein Einverständnis erzielt wird; …“.

Unter Allgemeinen Urlaubsgrundsätzen werden bislang die Regeln verstanden, nach denen der Arbeitgeber den Urlaub für die Beschäftigten zeitlich festsetzt. Diese Regeln sollen erreichen, die Arbeitsbefreiung unter der Belegschaft so gerecht aufzuteilen, dass die unterschiedlichen Interessen (Winterurlaubswunsch, Rücksicht auf Schulferien der Kinder etc.) ausgeglichen werden. So hat das BAG den Rechtssatz aufgestellt: „Es (das Mitbestimmungsrecht) betrifft … lediglich die Aufstellung allgemeiner Freistellungsgrundsätze und eines Freistellungsplans und ggf. die Festsetzung der zeitlichen Lage der Arbeitsfreistellung im Einzelfall.“ (BAG, Beschluss vom 28. Mai 2002 – 1 ABR 37/01 –, BAGE 101, 203).

Daraus ergibt sich an sich, dass der Betriebsrat nicht eine Mitbestimmung über die Art und Weise der vom Arbeitgeber zu erteilenden Hinweise bezüglich des Verfalls restlicher Urlaubsansprüche durchsetzen kann. Die durch die Rechtsprechung des EuGH neu aufgetretene Rechtsfrage ist jedoch noch nicht abschließend geklärt.

Im Schrifttum wird dazu die Ansicht vertreten, unter Urlaubsgrundsätze könnten auch Regelungen bezüglich der unionsrechtlichen Anforderungen an die Informationspflichten des Arbeitgebers verstanden werden (Fitting, BetrVG 31. Aufl. § 87 RN 196: ebenso dazu tendierend HaKo Düwell BetrVG/Kohte 6. Aufl. § 87 RN. 65). Ob die Rechtsprechung dieser Sicht folgen wird, ist ungewiss.

Jedenfalls können freiwillige (d. h. nicht über die Einigungsstelle nach § 87 Abs. 2 BetrVG erzwingbare) Betriebsvereinbarungen über verbindliche Anforderungen an die Hinweispflichten abgeschlossen werden. Deshalb sollten Betriebsräte ihre Arbeitgeber zu Verhandlungen auffordern.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!

 

Profis:

Vielen Dank für die aufschlussreichen Informationen und wertvollen Tipps, lieber Franz Josef!

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