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Arbeitszeiten gesunde Grenzen setzen - das bringt das BAG-Urteil zur Arbeitszeiterfassung

„Zeiterfassung ist auch Schutz vor Fremdausbeutung und Selbstausbeutung.“, begründete Inken Gallner, Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt, das wegweisende Urteil des höchsten deutschen Arbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung vom Dienstag dieser Woche (1 ABR 22/21). Danach sind Arbeitgeber ab sofort zur systematischen Erfassung von Arbeitszeiten verpflichtet.

Ganz neu ist das nicht: Bereits im Mai 2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem sog. „Stechuhr-Urteil“ Arbeitgeber eine „objektive, verlässliche und zugängliche Arbeitszeiterfassung“ auferlegt. Allerdings hat das EuGH-Urteil keinen zeitlichen Rahmen für die Umsetzung der Vorgaben in deutsches Recht gesetzt. Das Bundesarbeitsgericht hat nach dem EuGH-Urteil nun für weitere Klarstellung gesorgt. Das bringt Bewegung in die Debatte.

Darum ging es

Verhandelt wurde ein Fall aus einer vollstationären Pflegeeinrichtung im Raum Minden. Bereits 2017 forderte deren Betriebsrat die Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems und machte damit ein Initiativrecht bei diesem Thema geltend. Da sich Arbeitgeber und Betriebsrat nicht einigen konnten, landete das Ganze bei Gericht. Das Arbeitsgericht wies den Antrag des Betriebsrats zunächst ab, das Landesarbeitsgericht Hamm hingegen billigte dem Betriebsrat ein Initiativrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG zu. Nun musste also das BAG entscheiden.
Und das stellte fest: Eine betriebliche Mitbestimmung oder ein Initiativrecht sind ausgeschlossen, wenn es bereits eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers hierzu gibt.
Oder anders ausgedrückt: Ein Betriebsrat kann nichts verlangen, was der Arbeitgeber laut Gesetz sowieso tun muss.

Das Bundesarbeitsgericht zog zur Begründung jedoch nicht das Arbeitszeitgesetz, sondern das Arbeitsschutzgesetz heran.

Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG sind Arbeitgeber danach auch heute schon zur Sicherung des Gesundheitsschutzes verpflichtet „ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann“, heißt es in der Pressemitteilung des BAG.

Und das gilt generell und ohne Ausnahme: Ob im 3- oder 3000-Mann-Betrieb, mit oder ohne Betriebsrat und auch für mobiles Arbeiten, Home-Office und Vertrauensarbeitszeit. Vielleicht sogar gerade dort: Denn „Arbeiten von überall und immer“ führt oft auch zu ungeregelten Arbeitszeiten, die Grenzen zwischen Privat und Arbeit verschwimmen zunehmend.

Die Anzahl der geleisteten Überstunden ist zudem seit Jahren auf einem besorgniserregend hohen Niveau. 2021 – in der Hochphase der Pandemie – wurden trotz Kurzarbeit in vielen Unternehmen immer noch beachtliche 1,71 Milliarden Überstunden geleistet, fast die Hälfte davon unbezahlt (Quelle: IAB)! Die müssen zwar – ebenso wie Sonntagsarbeit – nach § 16 Arbeitszeitgesetz auch heute schon dokumentiert werden, nicht aber die gesamte Arbeitszeit.

Das Urteil des BAG soll – ebenso wie bereits das EuGH-Urteil aus 2019 – helfen ausufernde Arbeitszeiten einzudämmen und Ruhezeiten einzuhalten.
Offen gelassen hat das BAG, wie so eine Arbeitszeiterfassung genau aussehen muss und ob ein Arbeitgeber z. B. die Dokumentation an seine Beschäftigten delegieren darf.

Urteil hat Gesetzgeber überholt – und der muss jetzt nachziehen

Das Grundsatzurteil bringt neuen Schwung in das Gesetzgebungsverfahren. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung steht zwar, dass man „im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen“ wolle, welchen Anpassungsbedarf es angesichts des EuGH-Urteils im Arbeitszeitrecht gibt. Gespräche mit Gewerkschaften und Arbeitgebern in Form eines Arbeitszeitgipfels haben jedoch bisher noch nicht stattgefunden.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat nun zeitnah Vorschläge für eine Umsetzung der Pflicht in Aussicht gestellt, nachdem sein Ministerium Urteil und Begründung ausgewertet hat.
Ein Gesetz könnte regeln, wie aufgezeichnet werden soll, wie es weitergeht mit dem Modell Vertrauensarbeitszeit oder ob es z. B. branchenspezifische Regelungen geben soll.
Klar scheint bisher nur eins: Es soll so unbürokratisch wie möglich werden.

Das bedeutet das BAG-Urteil für den Betriebsrat

Auch wenn der Betriebsrat kein Initiativrecht bei der Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems hat, wie das BAG jetzt klargestellt hat, so hat das BAG mit seinem Urteil dennoch die Arbeitnehmerrechte gestärkt. Der Betriebsrat hat nach § 80 BetrVG weiterhin darüber zu wachen, dass gesetzliche Vorgaben wie auch § 3 ArbSchG umgesetzt werden. Kommt der Arbeitgeber der Aufforderung des Betriebsrats zur Umsetzung der Vorgaben nicht nach, können ggf. sogar die Arbeitsschutzbehörden eingeschaltet werden.

Und selbstverständlich hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht, wenn es darum geht, wie eine konkrete Lösung auszusehen hat!

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